weiß

Heute schreibe ich nicht am Bildschirm, nicht auf ein frisches leeres Blatt Papier. Heute bleibt das Papier leer.
Das weiße Blatt starrt mich an und sagt: „Das nennst du leer?“
Ich zögere.
„Wenn die Leere weiß ist, dann ist sie nicht leer“, sagt das Blatt.

Dieses Weiß hat etwas Erhabenes und Reines. Obwohl das Weiß nicht reinweiß ist. Auch nicht Vanille oder Magnolie. Eher wie das Weiß der Margeritenblüte oder der heiligen Hortensien. Weißer Flieder wird leicht dreckig, wenn Einzelblüten verblühen. Dieses Weiß meine ich nicht.
Mein Leben ist auch nicht mehr weiß, obwohl ich Menschen kenne, die sich leicht wieder in einen weißen unschuldigen Zustand versetzen können.
Das leere Blatt ist unschuldig. Als solches zeugt es von Respekt, dass ich es heute weiß lasse. In dem ich diese Gedanken auf einen Papierfetzen, auf gebrauchtes Schmierpapier schreibe, dokumentiere ich ihre Vorläufigkeit und ihre private Natur. Diese Wörter sind für niemanden bestimmt. Nicht einmal für mich. Sie hinterlassen keine Spuren. Sie purzeln einfach durch meine Hand und meinen Füller auf Schmierpapier. So wie beim Nießen kleine Tropfen Schleim in die Umgebung spritzen, die wir bestensfalls in der Spüle mit etwas Wasser in den Abfluss schicken.
Das ist nichts schlimmes, wenn Worte in den Abfluss fließen. Sie rinnen am Rohr entlang, passieren als Minipartikel Siebe und Filter. Sie vermischen sich in den weitverzweigten Abwassersystemen mit Shampooresten, Cremepartikel und Nudelwasser. Sie schwimmen in Kläranlagen und kommunizieren mit Klärbeamten. Klärbeamte wenden die Regeln der Abwasserverordnung 2-7f24 an und klären Shampooreste, Cremepartikel, Nudelwasser und Worte.
Geklärte Worte werden ins Grundwasser geleitet und fließen je nach Regenmasse von Süden nach Norden oder von Osten nach Westen oder umgekehrt.
Meine Worte, die ursprünglich einfach ungeplant auf ein Schmierpapier getropft sind, diese Worte landen verklärt vielleicht in Hamburg, werden dort zu Trinkwasser aufbereitet, von einem einsamen Schreiberling getrunken, der einen Satz von Pessoa liest und abschreibt:
„Jeder hat seinen Alkohol. Ich finde genügend Alkohol im Existieren. Betrunken vom Selbstgefühl scheife ich umher und gehe richtig.“
Dann liest er einen Satz von Handke und beendet sein Tagwerk:
„Niemand mehr da! Gehen wir.“

Und das leere Blatt Papier bleibt auch in Hamburg weiß.

Fernando Pessoa. Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, S. 98)
Peter Handke, „Ein Jahr aus der Nacht gesprochen“, S. 210
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