grashalm

Kein angenehmer Ort. Ein neuer Bahnhof in mitten von Autohäusern, Supermärkten und Lagerhallen. Hier hielt sich nur auf, wer weg wollte. Lea betrat den Backshop. Der einzige Mitarbeiter wirbelte zwischen Brezelofen und Kasse hin und her. Unter der abgehängten orangeroten Plastikdecke ein Tresen aus Holzimitat. Zwei Teenager warteten darauf, dass Brezeln fertig würden.

„Zwei Minuten, Belli“, sagte der Italiener mit gefärbten schwarzen Haaren. „Signora, bitte schön?“

Lea bestellte einen Latte Macchiato, bezahlte und setzte sich mit dem Glas ans Fenster. Die Lichter der Autos bildeten durch den Schneeregen hindurch eine Kette.

Roland kam ein paar Minuten zu spät. Der Italiener begrüßte ihn per Handschlag. „Ein gutes Neues, Ronaldo. Was liegt an?“

„Alles bestens, Antonio. Und selbst? Gib mir einen Kaffee und …“ Roland prüfte die Reste in der Auslage. „ … einen Vanillekrapfen.“

Er stellte einen schwarzen Aktenkoffer mit zerschlissenen Ecken neben Lea ab und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

„Ciao, cara.“

„Was spielst du hier für ein Theater?“, fragte Lea.

Statt einer Antwort holte er seinen Kaffee und den Krapfen von der Theke.

„Antonio kennt hier jeden. Schau, wenn Du morgen wiederkommst, wird er fragen: ‚Wie immer, Signora?‘ und du bekommst deinen Latte Macchiato mit extra schöner Schaumkrone.“

„Ich will ihn aber extra schön zwei farbig.“

„Antonio“, rief Roland. „Was ist das für ein Macchiato. Hast Du nichts im Hirn? Ein Macchiato gehört zweifarbig. Hörst du? Z w e i f a r b i g. Weiß, braun, weiß.“

„Lass das“, fuhr Lea dazwischen, „Alles in Ordnung, Antonio.“

Antonio grinste.

Roland sagte zu Lea: „Siehst du, morgen bekommst du ihn zweifarbig.“

„Ich komme morgen nicht wieder, ich komme nie wieder. Es ist zu trostlos.“

„Cara, ich bin hier. Hier ist mein Leben. Montag Starnberger Nordbahnhof, Dienstag Herrsching, Mittwoch Bad Tölz und so weiter.“

„Dein Leben ist trostlos.“

„Weil du den Grashalm nicht siehst.“

„Wo soll hier zwischen angepissten Bahnhofecken und grauen Schneeresten bitte schön ein Grashalm sein?“

„Nimm Antonio, er kennt hier jeden …“

„Du wiederholst dich.“

„Und weil er jeden kennt, vom Penner bis zum hochdotierten Pendler, und mit ihnen redet und ihnen zuhört, schafft er einen Grashalm, eine Oase.“

„Und deswegen musst du dich in einen italienischem Dünnbrett Vertreter verwandeln?“

„Ach du verstehst es nicht, so halte ich meinen Job aus. Das ist ein Spiel.“

Lea sah ihren Freund an. Graugrüne Augen inmitten von Lachfältchen. Ein liebevoller Mund. Er sah auch mit Ende vierzig einfach noch gut aus.

„Ein Spiel ohne Ziel?“, fragte sie.

„Ich lebe. Und ich lebe verdammt gut von meinem Job.“

„Von Fertigteig und Resopaltischen.“

„Sag nichts gegen meinen Fertigteig, er ist der beste am Markt und einwandfrei!“

„Das glaubst du doch selber nicht. Weiß Du wo alle Deine Zutaten her sind? Dein System ist falsch, das System, dem du dienst, ist falsch.“

Roland leerte seine Tasse in einem Zug. „Was ist das hier? Hast du eine Krise? Ich dachte wir wollten uns einfach mal zwischen drin treffen, weil du gerade in der Gegend warst. Wenn dir mein Job nicht passt, treffen wie uns nicht mehr hier.“

„Ja so wird es das beste sein.“

Sie sah auf die Uhr und erhob sich. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Ciao, caro. Lebe wohl.“

Sie hatte wirklich eine Krise und das dringende Bedürfnis, sich in eine Frühlingswiese zu betten.

©by tine 01-11

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